ORN #26 Kopfsprung in politische Debatten

Zwei neue Transparenz-Projekte erleichtern die Recherche zu politisch relevanten Dokumenten enorm: Dokukratie und bundestagwatch.de. Im Interview erzählt Journalistin Cristina Helberg, wie sie eine auf Telegram kursierende falsche Nachricht bis zu ihrer Quelle verfolgt hat. Willkommen zu Ausgabe #26.
– Sebastian Meineck
Dokukratie: Kleine Anfragen durchsuchen

Screenshot: Kleine Anfragen
Wofür braucht man das? Kleine Anfragen sind ein Instrument der Opposition im Parlament. Damit kann sie bislang unbekannte Einblicke in die Arbeit der Regierung bekommen. Auch für Journalist:innen sind die Antworten auf Kleine Anfragen eine wertvolle Quelle. Das neue Projekt Dokukratie macht sie durchsuchbar. Außerdem bietet Dokukratie eine Suchfunktion für Gutachten der wissenschaftlichen Dienste und für Dokumente aus den Untersuchungsausschüssen des Bundestags.
Wie funktioniert das? Öffentlich sind die Dokumente bereits, aber für die jeweiligen Portale von Bund und Ländern gibt es keine einheitliche Suchfunktion. Auf Dokukratie lassen sich die Dokumente einfach nach Stichworten durchsuchen sowie nach Parlamenten und Legislaturperioden eingrenzen. Die dazu gehörigen PDFs sind direkt verlinkt.
Was muss man beachten? Hinter Dokukratie steht das Projekt FragDenStaat der Vereins Open Knowledge Foundation Deutschland. Es gab schonmal ein ähnliches Projekt, kleineAnfragen.de. Die Betreiber:innen hatten aber 2020 nach fünf Jahren ihre Arbeit eingestellt. Grund: zu viel Aufwand. "In den letzten Monaten haben immer mehr Parlamente ihre Parlamentsdokumentation überarbeitet", erklärte kleineAnfragen damals. Deshalb brauche es immer wieder umfangreiche Änderungen an der Software. Würden Bund und Länder selbst ihre Dokumente besser zugänglich machen, müsste es Projekte wie kleineAnfagen oder Dokukratie nicht geben.
Bundestagwatch: Das macht der Bundestag

Screenshot: Bundestagwatch.de
Wofür braucht man das? Bundestagwatch ist eine Anlaufstelle für Dokumente des Bundestags wie Anträge, Berichte, Protokolle und Reden. Neben einer Stichwortsuche gibt es jede Menge Zugänge für Recherchen: Etwa eine thematische Übersicht nach Schlagworten von A wie "Abendschule" bis Z wie "Zwischenlagerung radioaktiver Abfälle". Möglich ist auch eine Suche nach Personen. Laut Zählung von bundestagwatch ist etwa keine Abgeordnete für so viele Drucksachen verantwortlich wie Ulla Jelpke (Linke). Sie ist demnach Autorin bei mehr als 3.800 Drucksachen.
Wie funktioniert das? Ähnlich wie Dokukratie macht Bundestagwatch öffentlich verfügbare Dokument besser such- und findbar. Die Links führen zu den PDFs auf den Servern des Bundestags. Bundestagwatch ist ein Hobbyprojekt des Berliner Entwicklers David Brachwitz. Laut Website zahlt er das Projekt aus eigener Tasche und bittet daher um finanzielle Unterstützung.
Was muss man beachten? Bundestagwatch ist kein amtliches Angebot und stützt sich auf freiwillige Arbeit. Es gibt keine Garantie, dass Links und Suchergebnisse immer aktuell und vollständig sind. Eine schöne Ergänzung zu Bundestagwatch ist OpenParliamentTV. Dort lassen sich zu Debatten im Bundestag die passenden Videoausschnitte finden.
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Interview: Reise zum Ursprung einer Verschwörungserzählung

Cristina Helberg | Foto: Sophie Herwig
Verschwörungserzählungen sind oft wie ein Knäuel, das sich kaum entwirren lässt. Der freien Journalistin Cristina Helberg ist genau das vor einem Jahr gelungen: Sie hat für eine Episode des Podcasts "Noise" der Firma Undone eine falsche Meldung bis zu ihrer Quelle verfolgt. Die Recherche führt zurück in den Juli vor einem Jahr, Flutkatastrophe im Ahrtal. Auf Telegram behaupteten Nutzer:innen, in einer Turnhalle seien 600 Babyleichen entdeckt worden.
Cristina, Telegram ist voller Desinformation und Verschwörungserzählungen. Warum habt ihr diese eine ausgesucht?
Die Meldung war besonders auffällig. Häufig sind Verschwörungserzählungen vage. In diesem Fall gab es eine konkrete Zeit, einen konkreten Ort und eine Zahl: 600 Babyleichen in einer Turnhalle nach der Flut. Die Meldung war am 26. Juli 2021 die meist verbreitete Nachricht in den beobachteten Telegram-Kanälen und -Gruppen. Das wissen wir, weil Data Scientist Josef Holnburger eine große Zahl von Kanälen und Gruppen auf Telegram monitort. Die Meldung wurde dort über eine halbe Million mal geteilt.
Wie habt ihr den Ursprung der Meldung gefunden?
In dem Podcast erzählen wir das in einer schönen Reihenfolge. In der Realität lief vieles parallel. Da war einmal diese extrem oft geteilte Sprachachricht von einem Telegram-Nutzer namens Leon Bäng. Diese Meldung über die Babyleichen klingt, als hätte sie jemand von einer laufenden Radiosendung aufgenommen. In der Meldung ist auch ein Einspieler von einem Reporter zu hören, der angeblich für den Nachrichtensender ntv im Flutgebiet war.
Ich habe mir dann auf YouTube die ntv-Berichte aus dem Flutgebiet angeschaut und den Reporter tatsächlich gefunden: Andreas Schopf. Er hat natürlich nicht von 600 Babyleichen berichtet, sondern von einer Kinderleiche. Aber die falsche Meldung hatte sich verbreitet. Die Polizei Koblenz hat uns mitgeteilt, dass sich Bürger:innen sogar nach den vermeintlichen Babyleichen erkundigt haben.
Parallel hatte Josef geschaut, was Leon Bäng noch auf Telegram macht. Einmal hatte er im Chat einen Link zu einem Radiosender namens top20radio gepostet. Den Sender habe ich mir mehrere Stunden angehört. Da werden die krassesten Verschwörungserzählungen verbreitet, vermischt mit Popmusik. Wirklich absurd. Wir glauben, die Meldung aus der viralen Sprachnachricht kam aus diesem Radio. Wir haben den Betreiber des Radios kontaktiert, aber keine Antwort erhalten. Das war eine Sackgasse.
Doch dann kam der entscheidende Hinweis.
Ja, Josef hatte eine noch ältere Telegram-Nachricht entdeckt, eine 10-minütige Sprachmemo. Die ist nur vier Stunden nach der ntv-Sendung aus dem Flutgebiet erschienen. Wir glauben deshalb, sie ist der Ursprung der Erzählung von den 600 Babyleichen. Die Person dahinter nennt sich auf Telegram Alexander Quade.
Ich habe ihn direkt auf Telegram angerufen und wir haben geredet. Ausschnitte davon sind im Podcast zu hören. Quade glaubt zum Beispiel an menschengemachte Tsunamis und sagt, die Infos über Babyleichen habe er aus dem QAnon-Netzwerk.
"Desinformation kann zu realen Taten animieren"
Beim Stichwort Kinderleichen hatte ich schon an QAnon gedacht. Ein antisemitisch geprägter Verschwörungsmythos, der um die Erzählung kreist, dass düstere Eliten massenhaft Kinder quälen. Was bringt es überhaupt, wenn Journalist:innen mit derart verbohrten Verschwörungsgläubigen sprechen?
Ich höre immer wieder in Redaktionen, dass man Verschwörungsgläubige gar nicht erst kontaktieren muss, weil die eh nicht mit einem reden. Das ist in meinen Augen nicht korrekt. Einige reden gern, und im direkten Gespräch kann ich den Kontext ihrer Handlungen erfahren. Quade hat mir im Podcast erzählt, dass er sich auf einen vermeintlichen Militärputsch freut wie ein kleiner Junge auf Weihnachten. Panik hat er nicht. Er hofft sogar, dass das System zusammenbricht. Das zeigt, wie gefährlich Verschwörungserzählungen sind. Ohne ein direktes Gespräch hätte ich das nicht erfahren.
Welchen Mehrwert hat es, solchen falschen und gefährlichen Erzählungen noch mehr Raum zu geben?
Ich glaube, es ist wichtig, um Desinformation zu verstehen. Desinformation entwickelt sich divers und heterogen. Es ist nicht so, dass sich das nur drei, vier einflussreiche Akteur:innen ausdenken. Dieses Wissen wird gebraucht, um als Medien und als Zivilgesellschaft Strategien gegen Desinformation zu entwickeln. Außerdem kann Desinformation Menschen zu realen Taten animieren. Nach der Flutkatastrophe war in der Region totales Chaos. Es kann gefährlich sein, wenn dann auch noch eine Falschmeldung Stimmung gegen Hilfskräfte macht, weil sie angeblich Babyleichen vertuschen.
Welche Reaktionen gab es auf die Recherche?
Viele Menschen fanden es krass, dass wir herausgefunden haben, wer hinter der Meldung steckt. Aber wenn man sich die Recherche anguckt, war es nicht wirklich kompliziert. Hassnachrichten von Verschwörungsgläubigen habe ich bei dieser Recherche ausnahmsweise nicht bekommen. Vielleicht haben sie den Podcast nicht gehört.
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– Sebastian