ORN #30 Jenseits der Twitter-Trends
Twitter hat viel mehr zu bieten als Shitstorms und aktuelle Debatten. Mit simplen Tools lassen sich längst vergessene Äußerungen von Politiker*innen ans Tageslicht holen und verborgene Netzwerke aufdecken. Willkommen zu Ausgabe #30.
Nitter: Schnelles Twitter ohne Login-Zwang
Screenshot: Nitter
Wofür braucht man das? Mit Nitter wird kurzes Nachschlagen auf Twitter noch schneller. Es handelt sich um ein alternatives Frontend. Das heißt, auf Nitter lässt sich das Geschehen auf Twitter verfolgen, ohne Twitter selbst besuchen zu müssen. Während auf Twitter.com schon nach kurzem Scrollen ein lästiges Login-Fenster auftaucht, zeigt Nitter Tweets mit kürzeren Ladezeiten, weniger Tracking und ohne Login-Zwang.
Wie funktioniert das? Nitter ist kein offizielles Angebot, sondern ein Projekt des Entwicklers Zed. Es soll vor allem "Privatsphäre und Performance" bei der Twitter-Nutzungs verbessern, bietet darüber hinaus aber Funktionen, die bei der Online-Recherche nützlich sind. So lassen sich auf Nitter auch beliebige Accounts per RSS-Feed abonnieren und dem eigenen Feedreader hinzufügen. Das ist besonders praktisch, falls man einzelne Accounts gezielt monitoren und ihre Tweets schnell und einfach per Stichwortsuche durchforsten möchte.
Was muss man beachten? Aktiv twittern geht mit Nitter nicht. Es ist ein Werkzeug für stille Beobachter*innen. Das Projekt entwickelt sich kontinuierlich weiter. Als nächstes geplant ist eine Funktion, um Accounts zu abonnieren. Aktuelle Infos zum Fortschritt teilt Zed auf auf Github.
TweepDiff: Gemeinsame Bekannte heraussieben
Screenshot: TweepDiff
Wofür braucht man das? Recherchiert man zu dubiosen Persönlichkeiten, stellt sich oft die Frage: Mit wem arbeitet die Person wohl eng zusammen? Wertvolle Hinweise zum Umfeld einer Person liefert TweepDiff. Das Browser-Werkzeug filtert die gemeinsamen Bekannten von zwei oder mehreren Twitter-Nutzer*innen heraus. Zuerst füttert man TweepDiff mit den Namen von Twitter-Accounts, die einen interessieren. TweepDiff liefert daraufhin eine Liste von Accounts, die von allen gesuchten Accounts gefolgt werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind das Personen aus demselben Interessengebiet.
Wie funktioniert das? Es ist öffentlich, wer wem auf Twitter folgt. Aber es würde ziemlich lange dauern, händisch die Listen von Tausenden Follower*innen miteinander zu vergleichen und Matches herauszufiltern. TweepDiff erledigt diese Aufgabe innerhalb von Sekunden.
Was muss man beachten? Wie die meisten praktischen Recherche-Tools ist auch TweepDiff kein offizielles Angebot von Twitter. Offenkundig könnte das Hobbyprojekt ein wenig Liebe gebrauchen. Die Websites des Entwickler-Duos führen ins Leere, der offizielle TweepDiff-Account hat seit 2010 nichts mehr getwittert. Ich hoffe, das praktische Werkzeug wird noch eine Weile lang funktionieren.
Erweiterte Suche: So viel lässt sich aus Twitter herauskitzeln
Screenshot: Twitter.com
Wofür braucht man das? Die Erweiterte Suche macht aus Twitter ein leicht zugängliches Archiv aus Statements und Stimmungsbildern zu beliebigen Themen in einem beliebigen Zeitraum. Suchbar sind Wörter und Wortfolgen. Die Ergebnisse lassen sich unter anderem nach Accounts, Zeitraum und einer Mindestzahl Retweets, Likes und Antworten eingrenzen. So kann man blitzschnell nachschlagen, wie oft Christian Lindner eine Forderung mit den Worten "besser wäre" eingeleitet hat (12 Mal) oder wann das Meme "Es ist Mittwoch, meine Kerle" erstmals auf Twitter erschien (Juni 2017).
Wie funktioniert das? Wer die Erweiterte Suche bei Twitter öffnen möchte, muss sich erst einmal die algorithmisch geordneten Suchergebnisse einer schlichten Stichwortsuche anzeigen lassen. Erst danach lässt sich mit einem Klick auf das Drei-Punkte-Symbol der Menüpunkt "Erweiterte Suche" ansteuern. Wer das zu umständlich findet, kann sich auch twitter.com/search-advanced als Lesezeichen speichern.
Was muss man beachten? Wer sich nicht von Trending Hashtags und überhitzten Debatten ablenken lässt, kann auf Twitter nach wie vor diverse Standpunkte und spannende Kontakte finden. Indem Twitter die Erweiterte Suche versteckt, wird dieses differenzierte Nutzungsverhalten eher nicht gefördert. Mit etwas Übung lassen sich die Funktionen der Erweiterten Suche auch durch schriftliche Befehle direkt in der Suchleiste anwenden. Zum Beispiel zeigt die Suche [(from:olafscholz) until:2009-06-20 since:2009-05-01] die ersten Tweets des heutigen Bundeszkanzlers. Damals wurde auf dem Account noch von Scholz in der dritten Person gesprochen.
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Interview: Twitter-Analyse zeigt, wo Abgeordnete wirklich stehen
Foto: Marius Sältzer
Marius Sältzer ist Political Data Scientist am Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim und untersucht die politischen Positionen von Abgeordneten. Seine Twitter-Analyse (Sältzer, M., & Stier, S., Die Bundestagswahl 2021 auf Twitter, PDF) macht erstmals sichtbar, wie sich einzelne Bundestagsabgeordnete anhand ihrer eigenen Tweets politisch verorten.
Marius, Twitter wurde schon rauf und runter analysiert. Was habt ihr Neues herausgefunden?
Es war bisher unmöglich, die politischen Positionen einzelner Abgeordneter miteinander vergleichbar zu machen und in einem Spektrum abzubilden. Das Abstimmungsverhalten im Parlament sagt durch die Fraktionsdisziplin wenig aus. Man kann sich zwar einzelne Statements anschauen und Mitgliedschaften in politischen Kreisen, aber es gab keine einheitliche Messung. Ich würde argumentieren, dass uns das mithilfe von Twitter gelingt.
Wie funktioniert das?
Wir haben alle 1,2 Millionen Tweets von Kandidierenden zur Bundestagswahl untersucht, ein Jahr vor der Wahl bis drei Monate danach. Zuerst haben wir die Tweets in einer großen Tabelle gesammelt. Dann haben wir eine sogenannten Faktoranalyse gemacht. Das ist ein statistisches Verfahren mithilfe einer Software. Es beantwortet die Frage, welche genutzten Wörter die Unterschiede zwischen den Accounts am besten erklären.
Zum Beispiel?
Ein Begriff wie "Asylant" findet sich vor allem bei rechten Accounts, "Geflüchtete" bei linken Accounts. Bei der Faktoranalyse haben sich zentrale, politische Dimensionen abgezeichnet, die Accounts voneinander unterscheiden, etwa Migration und Klimawandel. So lassen sich die Accounts clustern.
Welches Bild zeichnet sich ab?
Wir sehen große Heterogenität innerhalb der Parteien. Zum Beispiel können sich einzelne Abgeordnete von SPD und CDU sehr ähnlich sein, auch wenn sich die Parteien voneinander unterscheiden. Viele Wähler:innen sind der Meinung, es macht keinen Unterschied, wer in der Direktwahl für eine Partei kandidiert. Wir sehen, es macht einen Unterschied.
Grafik: Sältzer, M., & Stier, S. (2022). Die Bundestagswahl 2021 auf Twitter. easy_social_sciences, 67, 30-38.
Welche Rolle spielt es, wenn jemand politisch aus der Reihe tanzt?
Eine zentrale. Nach einer Wahl ändert sich die Zusammensetzung einer Fraktion. Selbst wenn ihre Größe gleich bleibt, kann die Fraktion dabei durch die einzelnen Abgeordneten nach rechts oder links rücken. Das hat Konsequenzen für die Vorschläge, die sie entwickelt.
Auf Twitter gibt es viel heiße Luft. Sind Tweets eigentlich noch Politik oder eher Lärm?
Das kommt darauf an, wie man Politik definiert. Man kann sagen, jeder Beitrag zum politischen Diskurs ist Politik, also auch auf Twitter. Wir haben gesehen, dass vor allem die jungen Parteien sehr aktiv twittern, also die Grünen und die FDP. Am wenigsten aktiv ist die CSU. Ich glaube aber weniger, dass Abgeordnete auf Twitter direkt Wähler:innen erreichen wollen. Ich vermute, sie wollen Journalist:innen ansprechen. Eine andere Theorie von mir ist, dass Abgeordnete vor allem Funktionär:innen ihrer Landespartei auf Twitter von sich überzeugen wollen. Das müsste man mal untersuchen.
Zoom zurück aufs große Ganze: Wie unterscheiden sich die Parteien laut eurer Analyse?
Wir haben die Ergebnisse interpretiert und sehen zwei zentrale Dimensionen. Da ist einmal eine kulturelle rechts-links-Dimension. An einem Pol ist die AfD, am anderen Grüne und Linkspartei. Dann gibt es eine ökonomische rechts-links-Dimension. Hier stehen CDU und FDP der Linkspartei gegenüber.
Das Bild entspricht der post-materialistischen Wende in der Politik seit den 80er-Jahren. Das heißt, es gibt nicht nur linke und rechte Antworten auf ökonomische Fragen wie Mindestlohn, sondern auch auf kulturelle wie Geschlechteridentität und Anti-Rassismus. Bei der AfD haben wir kaum ökonomisch rechte Themen beobachtet, sondern fast immer kulturelle wie Migration.
Was sind die Folgen eurer Analyse?
Die Analyse ist Teil eines Forschungsprogramms. Als nächstes werden wir die Ergebnisse überprüfen und mit anderen Quellen vergleichen, zum Beispiel Befragungen von Kandidierenden. Danach können wir untersuchen, inwiefern Parteien ihre Mitglieder disziplinieren, also auf politische Linie bringen.
In der Politik selbst wurde die Recherche weniger wahrgenommen, und dafür bin ich dankbar. Man will ja nicht, dass Abgeordnete noch während der Recherche ihr Twitter-Verhalten anpassen, weil sie sehen, oh, jetzt bin ich doch zu weit rechts.
Wie können Daten-Journalist:innen eure Methoden für eigene Recherchen anwenden?
Mit einer Faktoranalyse kann man in großen Textmengen Kernaussagen und Kernunterschiede erkennen und damit Akteur:innen vergleichbar machen. Man könnte damit auch Accounts von Lobbygruppen, Unternehmen oder Verschwörungsideolog:innen vergleichen. Beim Runterladen der Tweets hilft die Programmierschnittstelle (API) von Twitter. Für die Auswertung kann man sich an unserem Code orientieren, ich habe ihn auf GitHub hochgeladen.
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Alle Werkzeuge schnell und einfach wiederfinden: Ein mit Schlagworten durchsuchbares Archiv der bisherigen Beiträge gibt es auf ornarchiv.wordpress.com. Und hier ist eine übersichtliche Linkliste mit noch mehr Tools. Lieben Dank fürs Lesen und viel Erfolg bei der Recherche!
– Sebastian