#49 Insider auf LinkedIn finden
... und wie man alleine die Überwachung von Millionen enthüllt.
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Nachdem Plattformen wie Twitter (“X”) oder Facebook nur noch ein Schatten ihrer selbst sind, wird Microsoft-Tochter LinkedIn zunehmend zum Ort, wo man (fast) alle erreichen kann. Mit ein paar simplen Recherche-Kniffen lassen sich dort selbst aus dubiosen Branchen gezielt Personen aufspüren.
Das Werkstatt-Interview handelt von einer Recherche, an die manche Redaktionen ein ganzes Team setzen würden – aber Eric van den Berg hat sie allein bewältigt. Mit viel Motivation und Hilfe von ChatGPT hat er Abermillionen Handy-Standortdaten durchleuchtet und in den Niederlanden einen Skandal enthüllt.
Die Grundlage: LinkedIn-Recherche-Profil aufbauen
🔑 Wofür braucht man das? LinkedIn ist eine Schatztruhe für die Recherche zu interessanten Personen und Unternehmen. Nirgendwo sonst legen so viele Menschen aus aller Welt offen, wo sie in welcher Position gearbeitet haben. Vollständig einsehbar sind aber oft nur Profile von direkten Kontakten und deren Umfeld. Es lohnt sich also, allein zu Recherche-Zwecken viele LinkedIn-Kontakte zu knüpfen.
⚙️ Wie funktioniert das? Manche legen sich für die Recherche ein separates Profil mit falscher Identität an. Ich recherchiere auf LinkedIn gerne offen und schicke Kontaktanfragen an Menschen aus der Branche, die ich kennenlernen will, zuletzt etwa Datenhändler oder Pornoseiten. Anders als bei Facebook nehmen viele solche Anfragen von Fremden einfach an. Man fühlt sich eben gerne beruflich gesehen. Schon eine einzelne Pressesprecher*in oder Recruiter*in aus einer interessanten Branche kann genügen, um Dutzende nützliche Kontakte sichtbar zu machen.
📌 Was muss man beachten? Die gegenseitige Sichtbarkeit auf LinkedIn hat auch ihre Risiken. Je nach Account-Einstellungen können Personen sehen, wer ihr Profil besucht hat. Das eigene Recherche-Profil sollte deshalb frei von sensiblen Einblicken sein.
Die Recherche: Suchanfragen streuen
🔑 Wofür braucht man das? LinkedIn bietet eine Suchfunktion für eingeloggte Nutzer*innen. Deren Ergebnisse sind jedoch oft seltsam sortiert und unvollständig. Manchmal fördert eine gezielte Google-Suche andere Profile zutage. Wer gezielt Personen oder Unternehmen auf LinkedIn sucht, probiert am besten beides.
⚙️ Wie funktioniert das? Eine gezielte Google-Suchanfrage lautet etwa [site:linkedin.com/in "Olaf Scholz"] – damit findet man zum Beispiel Namensvettern des Bundeskanzlers. Mit [site:linkedin.com/in "Bundesamt für Verfassungsschutz"] findet man die Profile von Menschen, die nach eigenen Angaben für einen deutschen Geheimdienst tätig sind oder waren.
📌 Was muss man beachten? Viele Menschen haben zwar ein Profil auf LinkedIn, loggen sich dort aber selten ein, um etwa Direktnachrichten zu checken. Nur bei wenigen findet man mit Klick auf "Kontaktinfo" eine E-Mail-Adresse. Trotzdem kann LinkedIn bei der ersten Kontaktaufnahme helfen – weil man dort oft den aktuellen Arbeitgeber einer Person findet. Mithilfe von Tools wie hunter.io lässt sich wiederum ermitteln, wie ein Unternehmen seine E-Mail-Adressen strukturiert. Erstaunlich oft ist es schlicht: vorname.nachname@firma.com.
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Der Geheimtipp: Sales Navigator
🔑 Wofür braucht man das? Der Sales Navigator bietet erweiterte Suchfunktionen, die es auf LinkedIn sonst nicht gibt. Man kann sich damit zum Beispiel Personen anzeigen lassen, die eine bestimmte Kombination aus Arbeitgebern im Lebenslauf haben. Weiter lässt es sich nach Ländern und Positionen filtern. Auf diese Weise hatte etwa US-Journalistin Emily Baker-White herausgefunden, dass viele TikTok-Angestellte zuvor für chinesische Staatsmedien tätig waren. Allein das war eine Story.
⚙️ Wie funktioniert das? Der Sales Navigator richtet sich nicht an Redaktionen, sondern an Sales-Abteilungen. Es gibt eine kostenlose Demo-Version; ansonsten verlangt LinkedIn dafür ab 80 Euro im Monat. Wer schon mal sonderbare Angebote über LinkedIn bekommen hat, wurde möglicherweise selbst mit dem Sales Navigator gefunden.
📌 Was muss man beachten? Der Klickweg zum Sales Navigator führt zu einem Formular, in dem steht: "Wir setzen uns mit Ihnen in Verbindung, um einen Termin für eine Live-Demo zu vereinbaren." Ausprobiert habe ich das noch nicht. Aber vielleicht möchte man bei diesem Verkaufsgespräch mit LinkedIn nicht direkt offenlegen, dass man das Tool journalistisch einsetzen will.
Interview: Ein Datensatz, ein Journalist, Millionen Betroffene
Spontan fallen Eric van den Berg zwei Gründe ein, warum seine Enthüllung nicht mehr Aufsehen erregt hat: Nicht viele kennen den niederländischen Privatsender BNR Nieuwsradio. Und es braucht etwas technisches Verständnis.
Dabei könnte seine Recherche kaum alarmierender sein: Die Standortdaten von potentiell Millionen ahnungslosen Handy-Nutzenden aus den Niederlanden landen auf dem weltweiten Datenmarkt, abgeflossen durch populäre Apps. Und praktisch jede*r kann darin die Bewegungsprofile von Personen finden, ohne dafür einen Cent zu zahlen.
Und wenn ihr euch jetzt fragt: Moment mal, habe ich so eine ähnliche Geschichte nicht erst neulich aus Deutschland gehört?! Korrekt. Gemeinsam mit Kolleg*innen vom Bayerischen Rundfunk und netzpolitik.org habe ich im Sommer das Thema nach Deutschland geholt. Das Vorbild dafür war die Recherche von Eric.
ORN: Eric, was ist das Wichtigste aus deiner Enthüllung?
Eric van der Berg: Die Einfachheit, mit der man Handy-Standortdaten erwerben kann. Manch einer wird sagen, das ist doch längst bekannt. Es gab dazu im Jahr 2019 die große New-York-Times-Recherche "One Nation Tracked" über Daten von Menschen in den USA. Und doch war ich überrascht, wie offen diese Daten auch innerhalb der EU gehandelt werden. Und wie billig sie sind. Meine Recherche mit mehreren Millionen Standorten basiert allein auf kostenlosen Datensätzen, die mir Datenhändler als Gratis-Probe geschickt haben.
ORN: Als Gratis-Probe?!
Eric: Ja, dafür gibt es Plattformen, die Datenhändler und Kund*innen zusammenbringen. Die Gratis-Proben sind dazu da, dass man sich vor dem Kauf einen Eindruck von dem Produkt verschaffen kann.
ORN: Und jeder Mensch kann sich das besorgen?
Eric: Ja, ich habe mir einen kostenlosen Account auf einem Datenmarktplatz angelegt und dort nach Unternehmen gesucht, die Standortdaten aus den Niederlanden anbieten. Ein Unternehmen hat mir ohne Rückfragen den Datensatz geschickt, ein anderes wollte zuerst mit mir einen Videocall machen. Das war aber vor allem ein Verkaufsgespräch. Ich habe nicht direkt gesagt, dass ich die Daten für eine journalistische Recherche haben möchte. Aber ich bin mit vollem Namen und meiner beruflichen E-Mail-Adresse aufgetreten.
ORN: Wie muss ich mir so eine Gratis-Probe vorstellen?
Eric: Du bekommst einen Download-Link geschickt und lädst dir eine Tabelle mit Abermillionen Zeilen herunter. In jeder Zeile stehen unter anderen Geo-Koordinaten als Längen- und Breitengrad, ein Zeitstempel und die MAID.
ORN: ... die Mobile Advertising ID. Eine einzigartige Kennung für iPhones und Android-Handys. Wie ein Nummernschild macht sie unsere Geräte für die Werbe-Industrie erkennbar.
Python-Skripte mit ChatGPT
Eric: Der Datensatz, den ich bekommen habe, umfasst den Zeitraum von einem Monat. Wenn man mit so großen Dateien arbeitet, braucht man Geduld. Einzelne Suchanfragen benötigen viel Rechenzeit. Mithilfe von ChatGPT und meinen schwachen Programmier-Skills habe ich ein Python-Skript geschrieben, um aus der Tabelle gezielt die Daten zu ziehen, die ich suche.
ORN: Wonach hast du gesucht?
Eric: Ich wollte möglichst einflussreiche Menschen in den Daten finden, also habe ich zuerst nach den Koordinaten von sexy Orten gesucht, etwa dem niederländischen Parlament. Schließlich arbeiten dort die Leute, die selbst etwas gegen das Problem unternehmen können. Zuerst habe ich auf Google Maps die Koordinaten dieser Orte nachgeschaut. Dafür habe ich über den gesuchten Ort ein Viereck gelegt und die Koordinaten der vier Ecken erfasst.
ORN: Diese Funktion von Google Maps ist kaum bekannt: Rechtsklick > "Entfernung messen" > per Mausklick ein Viereck erstellen.
Eric: Aus diesen vier Koordinaten kannst du dir dann mit einem simplen Python-Skript alle Koordinaten innerhalb der Fläche berechnen. Dann habe ich gesucht, ob es zu diesen Koordinaten Einträge in der Tabelle gibt. Sobald du auf diese Weise ein Handy – also eine bestimmte MAID – gefunden hast, kannst du schauen, an welchen Orten dieses Handy noch erfasst wurde.
ORN: Und schon hast du ein Bewegungsprofil. Wie gut hat das geklappt?
Eric: Teilweise sehr gut. Ich habe die Koordinaten bei "My Maps" von Google hochgeladen. Das ist ein Dienst, mit dessen Hilfe du eigene Wegmarken auf einer Google-Karte setzen kannst. Pro Karte sind bis zu 2.000 Wegmarken erlaubt – und dieses Limit habe ich bei einzelnen Geräten oft erreicht. Das heißt, bei den betroffenen Handys wurde innerhalb eines Monats mehr als 2.000 Mal ein Standort erfasst. Das entspricht etwa drei Mal pro Stunde.
Peilsender in der Tasche
ORN: Das heißt, diese Menschen haben – ohne es zu wissen – einen Peilsender in der Tasche. Wie hast du die Daten mit echten Personen verknüpft?
Eric: Das war ziemlich einfach. Ich konnte davon ausgehen, dass Personen an dem Ort wohnen, an dem sich nachts ihr Handy befindet. In den Niederlanden ist Datenschutz nicht so extrem wie in Deutschland.
ORN: 🤨
Eric: Man kann in öffentlichen Registern nachschlagen, wer bei einer bestimmten Adresse wohnt. Tagsüber sind Menschen oft auf der Arbeit. Wo eine Person arbeitet, lässt sich wiederum oft über LinkedIn herausfinden. Auf diese Weise hatte ich schon zwei Anhaltspunkte, um eine Person zu identifizieren. Die Methode hat natürlich einen Selection Bias: Ich habe Leute gesucht, die einfach zu finden sind. Zum Beispiel fand ich einen hochrangigen Armee-Offizier und konnte die Bewegungen zwischen seinem Zuhause und Militärstandorten nachvollziehen. Ich habe ihm von meiner Recherche erzählt, und hat mir bestätigt, dass das offenbar seine Standortdaten waren.
ORN: Wie lange hat die Recherche gedauert?
Eric: Um die Weihnachtsfeiertage 2023 hatte ich damit angefangen, zunächst in meiner Freizeit. Irgendwann hatte ich dann die Deadline für den Text im Januar. Aber man könnte damit endlos viel Zeit verbringen. So eine Recherche gibt dir einen verdammten Kick. Ich glaube, einige verstehen das nicht. Sobald du in der Redaktionskonferenz "Standortdaten" sagst, kannst du zusehen, wie die Leute einschlafen.
ORN: Wie viele Personen hast du am Ende identifiziert?
Eric: Das waren etwa sieben, dafür habe ich die Bewegungsprofile von etwa 20 Handys untersucht.
ORN: Was weißt du über die Herkunft der Daten?
Eric: Sehr wenig. Unternehmen rühren Daten aus mehreren Quellen zusammen und verkaufen sie immer weiter. Das Geschäft ist wohl legal, wenn Nutzer*innen ihren Apps erlauben, ihre Standortdaten für Werbezwecke zu nutzen. Ohne die MAID wäre das nicht möglich. Die Infrastruktur dafür haben Google und Apple gebaut.
ORN: Gibt es noch etwas, das du gerne herausgefunden hättest?
Eric: Ja, ich würde gerne wissen, wie viele der Daten korrekt sind. Einige Zeilen hatten offensichtlich falsche Zeitstempel. Es könnte sein, dass Anbieter die Daten künstlich aufblähen und erfundene Daten dazumischen, damit ihr Angebot besser aussieht. Dafür habe ich aber keine Beweise.
ORN: Welche Folgen hatte die Recherche?
Eric: Es gab dazu Fragen im niederländischen Parlament. Das ist schon mal eine Vorstufe zu echten Konsequenzen. Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass auch Geheimdienste diese Daten kaufen. Das heißt, es geht hier auch um die nationale Sicherheit.
Das war’s für diese Ausgabe. 💫 Wenn du mir auf Mastodon folgst, liest du regelmäßig Neuigkeiten rund um Netzpolitik, KI und digitale Gewalt.
Vor der Online-Veröffentlichung erscheint dieser Newsletter zuerst gedruckt und teils gekürzt im Medium Magazin. Für deinen Recherche-Alltag habe ich ein verschlagwortetes Online-Archiv aller Beiträge zusammengestellt und eine Linkliste mit noch mehr Tools.
Danke fürs Lesen, viel Erfolg bei der Recherche und bis zum nächsten Mal 💛
Sebastian