#50 Das ultimative Themen-Barometer
... und wie der Handel mit geleakten Dokumenten auf Telegram abläuft.
Hey, willkommen zur 50. Ausgabe des Online-Recherche Newsletters!
Wann ist ein Thema eigentlich super aktuell, wann ist es komplett durch? Aus Social-Media-Feeds, Agenturmeldungen und Schlagzeilen kann dafür eine Art Bauchgefühl entstehen. Es gibt aber auch Tools, die täglich Tausende Artikel auswerten – und eine faktenbasierte Vogelperspektive aufs Nachrichtengeschehen liefern. Drei davon stelle ich hier vor.
Im Werkstatt-Interview berichtet RTL-Journalist Sergej Maier, wie er sich im Kaninchenbau namens Telegram zurechtfindet, wo russische Söldner neue Interessierte für den Krieg rekrutieren und dubiose Dealer amtliche Dokumente verticken.
ueberblick.news: Die Schlagzeilen in Deutschland
🔑 Wofür braucht man das? ueberblick.news zeigt, was die Schlagzeilen der größten deutschen Nachrichtenmedien bestimmt. Dafür erfasst das Tool, wie weit oben ein Artikel auf der Startseite eines Mediums steht und für wie lange. Die Medien untereinander gewichtet das Tool mithilfe monatlicher Klickzahlen. So entstehen praktische Rankings, die etwa die Top-Themen des Tages, der Woche oder des Monats zeigen. Die Original-Artikel sind dabei nur einen Klick entfernt.
⚙️ Wie funktioniert das? ueberblick.news ist ein Projekt des Entwicklers Marvin Mai. Das Tool grast automatisch ab, was auf den Startseiten von Deutschlands größten Nachrichtenmedien passiert. Der Quellcode ist öffentlich einsehbar. Die Top-Themen ermittelt das Tool automatisch durch eine Analyse verwendeter Wörter. Erfasste Artikel lassen sich außerdem per Stichwortsuche durchforsten.
📌 Was muss man beachten? Hobbyprojekte wie ueberblick.news hängen vom Engagement einer einzelnen Person ab und brauchen kontinuierliche Pflege. Aktuell ist das etwa eine Stunde im Monat, hat mir Marvin Mai auf Anfrage geschrieben. Und er schreibt: Er würde sich freuen, wenn Menschen mitmachen oder mit den Daten weiterarbeiten wollen.
EMM: Die Nachrichtenlage in Europa
🔑 Wofür braucht man das? Der Europe Media Monitor (EMM) zeigt an, worüber Medien vor allem in Europa gerade am meisten berichten. Per Mausklick kann man entscheiden, für welchen Sprachraum man sich interessiert. Besonders praktisch ist eine Übersicht der zehn Top-Storys im Tagesverlauf. Deren Trendkurven können zum Beispiel verraten, was gerade im Aufwind ist, oder Inspiration für Weiterdrehs liefern.
⚙️ Wie funktioniert das? Der EMM ist ein staatliches Angebot, dahinter steckt die Gemeinsame Forschungsstelle der EU-Kommission. Das Tool erfasst demnach täglich auf 17.000 Websites um die 450.000 Artikel in 80 Sprachen. Anhand von Wortkombinationen werden die Artikel maschinell zu Themen gebündelt. Wie es sich für ein Online-Angebot der EU gehört, ist es erstaunlich umfangreich, kaum bekannt, schlecht designt und hat langsame Ladezeiten.
📌 Was muss man beachten? Gerade Journalist*innen haben oft ein Bauchgefühl dafür, welche Themen gerade im Trend liegen oder worüber niemand mehr spricht. Werkzeuge wie der EMM können dieses Gefühl auf Fakten stützen. Fragt sich nur, welche Schlüsse man daraus zieht: Auf den Trend aufspringen oder lieber berichten, was gerade kaum jemand macht?
50 Ausgaben Online-Recherche Newsletter! 🥳
Das sagen Leser*innen zum Jubiläum:
“Manche Investigativ-Journalist:innen hüten ihre Tools und Tricks wie große Geheimnisse. Sebastian tut es nicht, und lädt noch dazu andere ein, einfach mal zu erzählen. Und das ist richtig schön.“ – Janne Knödler, Bayerischer Rundfunk
“Wäre der ORN ein Schüler, wäre er ein hilfsbereiter Streber. Einer, bei dem man nicht nur abschreiben darf, sondern der einem auch noch beibringt, wie er auf seine Lösungen gekommen ist.” – Paul Schwenn, freier Journalist (NDR, STRG_F)
“Der Online-Recherche-Newsletter von Sebastian ist für JournalistInnen ein must-read und eine feste Empfehlung in meinen OSINT-Trainings. Jede Ausgabe erweitert den Blick über den Tellerrand und über Google hinaus. Besonders sind hier die klaren Themenschwerpunkte: Neben den Tool-Empfehlungen gibt es Tipps und Erfahrungsberichte aus der Praxis. Ein rundum gelungener Newsletter, der direkt zum Ausprobieren motiviert.” – Julia Bayer, Deutsche Welle
"Am liebsten lese ich mittlerweile die Interviews. Doch auch die Tipps helfen im Alltag – selbst, wenn man kein Investigativ-Journalist ist. Perplexity oder BibBot kenne ich aus dem Newsletter und nutze ich (fast) täglich. Oder auch die Recherche-Hacks zu verschiedenen soziale Netzwerken haben mir schon bei der Arbeit geholfen." – Ali Roodsari, Apotheken Umschau
"Wenn ich den Online-Recherche Newsletter lese, werde ich neidisch: Hier stehen Recherchewege zu den Geschichten, die ich vielleicht hätte haben können, wär' ich nur drauf gekommen, wo und wie ich suchen muss. Und sie sind immer überraschend!" – Daniel Laufer, freier Journalist
"Der ORN ist für mich Horizonterweiterung und Inspirationsquelle. Und er hat mir Zeit geschenkt: Ich hab dort zahlreiche Tools entdeckt, die ich seither etwa für die Recherche und den kompakten Nachrichten-Überblick, aber auch für das Sammeln und Archivieren von Belegen verwende." – Maria Retter, Paper Trail Media
“Sebastian ist ein Top-Digitaljournalist, und es ist super inspirierend, wenn er in seinen Werkzeugkasten schaut – oder mit anderen tollen Journalistinnen und Journalisten über ihre Recherchen spricht." – Jan Eggers, Hessischer Rundfunk
"An Sebastians Newsletter schätze ich besonders, dass man einen Einblick bekommt, wie vielfältig Recherchearbeit sein kann. Die Arbeit von Journalist:innen ist sehr individuell. Nach links und rechts zu schauen kann sehr bereichernd sein, um dem eigenen Werkzeugkasten das eine oder andere Hilfsmittel hinzuzufügen." – Jana Ballweber, KNA
"Als Recherche-Trainer empfehle ich Sebastians Newsletter jede Woche in einem meiner Seminare, weil ich ihn selbst gerne lese und mit einer Ausgabe pro Monat auch nicht überfordert bin – im Gegenteil. Neben den Tools mag ich die Anwendungsbeispiele in den Interviews/Beispielgeschichten. Neben Sebastians Linkliste habe ich auch ein weiteres Tool (Search by Image für Firefox) aus dem Newsletter in meine eigene Linkliste aufgenommen." – Marcus Lindemann, autoren(werk) GmbH & Co.KG/freier Recherchetrainer
"Am liebsten gehe ich ins Archiv des ONR, in dem alle Werkzeuge aufgelistet sind. Immer wenn ich mich frage: Wie heißt gleich nochmal diese Firmendatenbank? Oder: Wie war der Name dieser Website, die zeigt, wie E-Mail-Adressen gebaut sind? In der Sammlung auf start.me findet man schnell eine Antwort." – Sabrina Winter, FragDenStaat
Tausend Dank an alle Gratulant*innen, Leser*innen und Unterstützer*innen des Newsletters! <3
Und jetzt – geht’s weiter.
Media Cloud: Globales Nachrichten-Archiv
🔑 Wofür braucht man das? Mit Media Cloud lässt sich recherchieren, wie sich Themen in Nachrichtenmedien verbreitet haben, aufgeschlüsselt nach Suchbegriffen und Sprachen. So lassen sich Trends beschreiben oder neue Quellen erschließen. Umso mächtiger wird das Tool, wenn man Suchbegriffe kombiniert, um ein Phänomen einzugrenzen, zum Beispiel "Elon Musk", "Twitter" und "Rechtsextreme".
⚙️ Wie funktioniert das? Media Cloud wird von US-Stiftungen gefördert; dahinter stehen zwei Unis aus Massachusetts und die gemeinnützige "Media Ecosystems Analysis Group". In die Datenbank fließen Links und Inhalte von mehr als 60.000 Quellen. Schon deren Übersicht ist ein Fundgrube, denn sie zeigt die führenden Medien aus beliebigen Regionen der Welt. Um Media Cloud zu nutzen, braucht man einen kostenlosen Account.
📌 Was muss man beachten? Einen Echtzeit-Überblick bietet Media Cloud nicht, dafür eine praktische Suche in einem riesigen Archiv. So eine Vogelperspektive macht einige Recherchen überhaupt erst möglich. Zum Beispiel hat Media Cloud selbst analysiert, wie Nachrichtenmedien in den ersten vier Wochen über den Krieg in Israel und Gaza geschrieben haben.
Interview: Auf den Spuren russischer Söldner bei Telegram
Telegram ist nicht nur Messenger, sondern auch soziales Netzwerk, Propaganda-Instrument und florierender Schwarzmarkt für geleakte Daten. Eine Recherche zur russischen Söldner-Gruppe Wagner führte Sergej Maier vom Team Verifizierung bei RTL Deutschland in die Untiefen des Messengers. Im Interview erklärt er, welche sensiblen Informationen sich auf Telegram beschaffen lassen – und welche Tücken dabei lauern.
ORN: Sergej, was wolltest du über die Gruppe Wagner herausfinden?
Sergej Maier: Nach dem Flugzeugabsturz von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin im August 2023 war unklar, wer die Führung über die Tausenden Söldner übernehmen wird, die auch im Ukraine-Krieg eine prominente Rolle spielen. Wird das russische Verteidigungsministerium seine Interessen durchsetzen, wird die Situation aus dem Ruder laufen? Also habe ich mich auf Telegram umgeschaut.
ORN: Wieso Telegram?
Sergej: Das ist inzwischen die wichtigste Plattform der Gruppe Wagner. Wenn du als Journalist der Gruppe Wagner eine Presseanfrage stellten wolltest, hast du dem Telegram-Kanal der Concord-Group geschrieben – dem Firmengeflecht hinter Prigoschin. Dieser Kanal postet auch immer wieder Nachrichten aus anderen Kanälen und Gruppen. Auf diese Weise habe ich mir Stück für Stück das Netzwerk der Gruppe Wagner auf Telegram erschlossen. Auf einem Kanal fand ich einen Aufruf, um neue Söldner zu rekrutieren. Wer Interesse hatte, sollte sich an eine bestimmte Telefonnummer wenden.
ORN: Wohin hat dich die Nummer geführt?
Sergej: Zur ihr gehört ein Telegram-Account mit dem Symbol der Gruppe Wagner als Profilbild. Im Namen des Accounts standen wichtige Informationen: Komi, eine Republik in Russland, und ein Spitzname: Stefles. Also habe ich mir den Telegram-Kanal der Gruppe Wagner in Komi angeschaut und dort nach einem Stefles gesucht. Ich fand Fotos von einem jungen Mann, der im Kanal immer wieder auftauchte. Es gab auch einzelne Medienberichte über einen Stefles von der Gruppe Wagner. Ich habe dann sein Gesicht mit einem Telegram-Bot gesucht.
ORN: Wie funktioniert das?
Sergej: Es gibt Gesichtersuchmaschinen für Fotos der russischen Facebook-Alternative VKontakte. Du lädst dort ein Foto hoch und bekommst identische oder ähnliche Gesichter gezeigt, inklusive Link zum VKontakte-Profil. Solche Telegram-Bots werden immer mal wieder gelöscht und erscheinen dann wieder unter neuem Namen.
ORN: Hast du Stefles auf VKontakte gefunden?
Sergej: Ja, ich fand mehrere Fotos von ihm, verteilt über mehrere Accounts. Auf den Fotos ist er jünger. Man sieht ihn zum Beispiel mit einer Freundin oder mit einem Hund. Auf einem Foto steht er vor einem bekannten Kloster in Komi. Ein Account war bereits gelöscht. Zwei weitere gehören offenbar Freundinnen von ihm. Ich habe die Frauen kontaktiert, aber wurde direkt geblockt.
ORN: Wie kam der Durchbruch?
Sergej: Ich habe Stefles dann auf Telegram direkt geschrieben und gesagt, dass ich Journalist bin und ein paar Fragen habe. Es passiert oft, dass man dann geblockt wird. Aber Stefles war bereit für einen Videocall. Das hat mich auch überrascht. Wir haben sechs bis sieben Minuten lang gesprochen. Er hat bestätigt, das er für die Gruppe Wagner rekrutiert und aus Komi kommt. Seinen Namen hat er nicht genannt. Sein Gesicht hat er vermummt, ich konnte nur seine Stirn und Augen sehen. Aber ich konnte klar erkennen, dass es derselbe Mann ist wie auf den anderen Fotos.
ORN: Wie bist du an Stefles echten Namen gekommen?
Sergej: Dabei hat mir dieser eine gelöschte VKontakte-Account geholfen. Denn in der URL des Accounts stand eine einzigartige Nummer, eine Account-ID. Diese ID kann man bei einem weiteren Telegram-Bot eingeben. Der Bot antwortet mit Eckdaten, die einmal zu diesem VKontakte-Account hinterlegt wurden, zum Beispiel Klarname, E-Mail-Adresse, Telefonnummer. Das Ergebnis war ein Vor- und Nachname.
ORN: ... den wir hier im Interview nicht nennen.
Sergej: Diesen Namen habe ich dann sehr lange in Wagner-Gruppen und -Kanälen gesucht. Am Ende fand ich tatsächlich eine abfotografierte, interne Liste mit rund 30 Menschen, die neue Wagner-Söldner rekrutieren. Auf dieser Liste fand ich auch erstmals Stefles Vatersnamen, was enorm dabei hilft, eine Person in Russland eindeutig zu identifizieren.
„Wurde ein paar Mal über den Tisch gezogen“
ORN: Warum zirkulieren all diese sensiblen Daten auf Telegram?!
Sergej: Du musst dir das so vorstellen: Russland ist sehr groß, sehr digital und sehr korrupt. Es gibt ständig Leaks. Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist immens. Viele Menschen wollen sich etwas dazu verdienen. Zum Beispiel, indem sie geleakte Daten zu Geld machen. Bei manchen Bots musst du für eine Datenabfrage ein paar Rubel zahlen. Hinter manchen Bots stecken Betrüger, und du bekommst gar deine Daten. Auch ich wurde ein paar Mal über den Tisch gezogen. Es ist wie ein Kaninchenbau. Mit der Zeit kennst du dich besser aus und weißt, welchen Bots und Kanälen du mehr vertrauen kannst. Am Ende sind alle Daten nur Hinweise, die du weiter prüfen musst. Du kannst nie wissen, ob die Daten stimmen und welches Interesse die Person dahinter hat. Und wir als Redaktion veröffentlichen nichts, was nicht veröffentlicht werden muss.
ORN: Wie schützt du dich selbst auf Telegram?
Sergej: Wenn ich auf Telegram recherchiere, muss ich immer davon ausgehen, dass so ein Bot auch Infos über mich sammelt: Telefonnummer, Telegram-ID und so weiter. Ich empfehle, für solche Zwecke eine Wegwerf-Nummer zu verwenden. Zum Beispiel habe ich mir für die Recherchen eine russische SIM-Karte besorgt. Die Kleinstbeträge in Rubel bezahle ich über YooMoney.
ORN: Zurück zu Stefles: Was hast du mit dem vollen Namen gemacht?
Sergej: Ich brauchte noch ein offizielles Dokument, das mir den Namen bestätigt. Auch dafür gibt es einen Schwarzmarkt auf Telegram, den "Grey Market". Du findest dort russische Pässe, Ausschnitte aus dem Personenregister, Reisedaten.
ORN: 🤯
Sergej: Du kommunizierst nicht direkt mit einer Person, sondern mit einem Bot. Du gibst an, was du suchst und bekommst eine Antwort, ob es Dokumente gibt. Dann bezahlst du ein paar Rubel. Auf diese Weise habe ich einen Auszug aus dem Personenregister bekommen, mit Namen und Foto von Stefles. Es war das letzte Puzzleteil, um die Identität zu bestätigen.
ORN: Was wurde aus der Recherche?
Sergej: Sie sollte eigentlich Teil einer größeren Geschichte werden, aus der dann aber nichts geworden ist. Jetzt ist sie ein anschauliches Beispiel dafür, was alles mit Telegram möglich ist. Ich habe sie auf der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche vorgestellt.
ORN: Sollten Redaktionen mehr auf Telegram recherchieren?
Sergej: Ja, gerade in Ländern, deren Regierungen viele Internet-Dienste zensieren, ist Telegram Gold wert. Es hilft natürlich sehr, wenn man die jeweiligen Sprachen spricht. Zum Beispiel ist Telegram sehr ergiebig für Recherchen zu Russland, Belarus und Iran.
Das war’s für diese Ausgabe. 💫 Wenn du mir auf Mastodon folgst, liest du regelmäßig Neuigkeiten rund um Netzpolitik, Databroker, KI und digitale Gewalt.
Vor der Online-Veröffentlichung erscheint dieser Newsletter zuerst gedruckt und teils gekürzt im Medium Magazin. Für deinen Recherche-Alltag habe ich ein verschlagwortetes Online-Archiv aller Beiträge zusammengestellt und eine Linkliste mit noch mehr Tools.
Danke fürs Lesen, viel Erfolg bei der Recherche und bis zum nächsten Mal 💛
Sebastian