ORN #40: Mit dem Bibliotheks-Ausweis über die Paywall
... und Denken wie ein professioneller Faktenchecker.
Schlaue Gedanken haben viele – das schwerste ist aber, sie auch zum richtigen Zeitpunkt parat zu haben. Dabei hilft ein sagenhaft gutes Werkzeug, das ich in diesem Newsletter vorstelle. Im Werkstatt-Interview erklärt AFP-Faktenchecker Matus Krcmarik Schritt für Schritt, wie er eine potentiell falsche Nachricht aus dem Ukraine-Krieg findet und überprüft. Willkommen zu Ausgabe #40.
Obsidian: Browser fürs Gehirn
🔑 Wofür braucht man das? Obsidian ist wie ein zweites Gedächtnis. In dem Programm lassen sich Textdateien erstellen, miteinander verknüpfen und über Tausende Dateien hinweg gezielt nach Stichworten durchsuchen.
Damit löst Obsidian ein Problem, das mich seit Jahren bei der Arbeit begleitet. Ich notiere mir zwar immer wieder Ideen für Recherchen oder Zitate aus Büchern und Fachgesprächen. Aber dann rühre ich die Textdateien nicht mehr an. Dank Obsidian verstauben meine gesammelten Notizen nicht mehr in irgendwelchen Unterordnern, sondern lassen sich in kürzester Zeit wiederfinden, zusammenführen und weiterstricken.
⚙️ Wie funktioniert das? Obsidian ist eine quelloffene Software für MacOS, Windows, Linux, Android und iOS. Sie läuft zunächst lokal auf dem eigenen Gerät, lässt sich auf Wunsch aber auch mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung über mehrere Geräte hinweg synchronisieren. Die Textdateien werden im platzsparenden Markdown-Format (.md) gespeichert. Wer eines Tages doch kein Interesse mehr an Obisidian hat, findet die md-Dateien ordentlich auf der eigenen Festplatte.
📌 Was muss man beachten? Gerade mal wenige Jahre alt hat Obsidian schon eine begeisterte Fan-Community, die sich auf Discord gegenseitig Fragen beantwortet und sich über Wünsche für neue Features austauscht. Schon jetzt ist Obisidian voll von Funktionen, die mein Nerd-Herz aufblühen lassen – zum Beispiel anpassbare Tastenkürzel. Hinzu kommt eine Reihe von Plugins wie etwa ein Kalender, die ich mir noch nicht näher angeschaut habe.
Wer gerne nicht-linear denkt, kann seine Notizen zum Beispiel miteinander verknüpfen und in einem interaktiven Netzwerk-Graphen visualisieren. Das macht Eindruck, ist aber eher nicht mein Fall. Stattdessen liebe ich den optionalen Tab, der mir die Zwischenüberschriften meiner Notizen in einer anklickbaren Gliederung anzeigt. 🤩
BibBot: Kurzer Draht ins Pressearchiv
🔑 Wofür braucht man das? Wer bei der Online-Recherche auf eine Paywall stößt, kann sie mit dem BibBot innerhalb weniger Sekunden überqueren, und zwar legal. Das Browser-Plugin für Firefox, Chrome und Safari unterstützt Dutzende Nachrichtenseiten, darunter SPIEGEL, Süddeutsche, ZEIT, Tagesspiegel und Handelsblatt. Stößt man bei der Recherche auf eine Paywall, sucht BibBot den Artikel automatisch in den Pressearchiven der Anbieter Genios und Munzinger.
⚙️ Wie funktioniert das? Für BibBot braucht man einen Account bei einem passenden Bibliotheks-Verbund. In Berlin ist es der VÖBB, Kostenpunkt: nur zehn Euro im Jahr. Mit so einem Account darf man nicht nur Bücher ausleihen, sondern auch Pressearchive durchsuchen. Der BibBot tut nichts anderes, als einem diese Klickarbeit abzunehmen. Entwickelt wurde er von FragDenStaat-Gründer Stefan Wehrmeyer.
📌 Was muss man beachten? Einige Paywall-Artikel kann der BibBot nicht in den Pressearchiven finden. Dafür kann es mehrere Gründe geben. Entweder der gesuchte Artikel hat für die Online-Veröffentlichung einen anderen Titel bekommen – dann hilft eine händische Suche bei Genios. Oder der gesuchte Artikel ist nicht gedruckt erschienen und landet deshalb nicht im Pressearchiv. Dann lohnt sich wohl doch das Abo direkt beim Verlag – und es ist ohnehin eine gute Sache, Journalismus finanziell zu unterstützen.
Interview: Videos aus dem Ukraine-Krieg factchecken
Mit einem internationalen Netzwerk aus Angestellten überprüft die Nachrichtenagentur AFP (Agence France-Presse) virulente Behauptungen im Netz. Im Interview führt der slowakische AFP-Faktenchecker Matus Krcmarik Schritt für Schritt durch eine seiner Recherchen – und zeigt, wie viel sich allein durch strukturiertes Googeln herausfinden lässt. Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt.
ORN: Matus, dein Faktencheck handelt von einem Video mit Soldat:innen auf einem Feldweg. Es wurde behauptet: Hier kapitulieren Ukrainer:innen. Du hast aber herausgefunden: In Wahrheit ist es ein Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine. Wieso hast du dir dieses Thema herausgepickt?
Matus Krcmarik: In diesem Fall gab es eine klare Behauptung ("claim"), die man auch wiederlegen kann. So etwas eignet sich sehr gut für einen Faktencheck. Außerdem wurde die Behauptung oft genug geteilt, mindestens mehrere Hundert Mal auf Facebook. Das klingt für dich vielleicht wenig, aber in der Slowakei wohnen nur 5,5 Millionen Menschen. Da setzen wir die Schwelle niedriger an.
ORN: Wo entdeckst du solche Behauptungen?
Matus: Wir erhalten Listen von verdächtigen Beiträgen direkt von Facebook. Facebook wiederum bekommt die Hinweise von seinen Nutzer:innen. Sie können einen Beitrag flaggen, den sie für falsch halten. Wir überprüfen die Listen und schreiben gegebenenfalls Faktenchecks. Sie werden direkt neben entsprechenden Facebook-Beiträgen verlinkt, weil Meta ein Kunde von uns ist.
Außerdem beobachten wir selbst Gruppen auf Facebook und Telegram. Vor allem falsche Behauptungen über den Ukraine-Krieg erscheinen oft zuerst in slowakischer Sprache, weil die Ukraine unser Nachbar ist. Oft tauchen sie danach auf Tschechisch und Polnisch auf, später teils auf Deutsch und Englisch.
ORN: Faszinierend! Ich habe nie darüber nachgedacht, wie Falschbehauptungen durch Sprachräume wandern. Wie hast du überprüft, ob das Video eine Kapitulation ukrainischer Soldat:innen zeigt?
Matus: Ich habe zuerst eine umgekehrte Bildersuche ("reverse image search") gestartet. Dafür nutzen wir InVID. Du kannst dort einfach ein Video hochladen. Das Werkzeug erstellt automatisch Screenshots und schickt sie an Bilder-Suchmaschinen. Die wichtigsten sind Google und Yandex. Durch diese Suche habe ich einen Beitrag auf Reddit gefunden, in dem stand: Die Aufnahme zeigt einen Gefangenenaustausch.
Das allein ist keine verlässliche Quelle, aber ich hatte damit schon mal eine Hypothese. Und es passte zu dem, was man in dem Video sieht: Da laufen Soldat:innen in beide Richtungen. Also habe ich nach einem Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland innerhalb der letzten Monate gegoogelt.
ORN: Was kam bei der Suche raus?
Matus: Ich fand ein Video von der Gruppe Wagner, aufgenommen am 25. Mai nahe Bachmut. Es war eine andere Kamera-Perspektive, aber dieselbe Situation. Um das zu verifizieren, habe ich Elemente aus beiden Aufnahmen miteinander verglichen: Es waren eindeutig dieselben Panzer, Menschen, weißen Flaggen und Feldwege.
ORN: In deinem Artikel hast du Screenshots nebeneinander gestellt und Elemente im Bild mit Kreisen und Rechtecken markiert. Mit welchem Programm machst du das?
Matus: Wir nutzen dafür Screenpresso. Es ist ein sehr schlichtes Programm. Ich glaube, die Kolleg:innen haben sich einfach irgendwann dafür entschieden und bleiben dabei, damit alles einheitlich aussieht.
ORN: In welchem Kontext wurde das Wagner-Video veröffentlicht?
Matus: Ich habe es zuerst in einem Artikel der Washington Post gesehen. Die Zeitung hat die Szene als Gefangenenaustausch beschrieben. Als Quelle hat sie einen Telegram-Kanal von Wagner genannt. Dort konnte ich das Video auch selbst finden. Mit den Eckdaten "25. Mai" und "Bachmut" habe ich gezielt weiter gegoogelt. So habe ich ein drittes Video von derselben Situation gefunden, veröffentlicht auf einem YouTube-Kanal der ukrainischen Armee. Auch die Armee hat die Szene als Gefangenenaustausch beschrieben. Somit hatte ich die Bestätigung von beiden Kriegsparteien.
ORN: Bingo! Aber wieso gibt es überhaupt so viele Aufnahmen von einen Gefangenenaustausch?
Matus: Das weiß ich leider nicht. Es gibt mindestens drei Videos von der Szene. Eines von der Ukraine, eines von der Wagner-Truppe – und das dritte wurde zusammen mit der falschen Behauptung veröffentlicht. Ich konnte nicht herausfinden, woher es kommt. Das hätte ich zu gerne gewusst.
ORN: Was gefällt dir am Factchecking?
Matus: Es gefällt mir, selbst neue Dinge herauszufinden. Für AFP arbeite ich erst seit Kurzem. Davor war ich 15 Jahre lang Auslandsredakteur und -reporter und musste mich auf die Arbeit von anderen Faktenchecker:innen verlassen. Mir gefällt es auch, mit internationalen Kolleg:innen zu arbeiten. Unsere Faktenchecks schreiben wir zuerst auf Englisch. Dann können die Büros in anderen Ländern schauen, ob sie die Recherchen übersetzen wollen, weil sich die Behauptungen auch in ihrer Sprache verbreiten. Mein Faktencheck über den Gefangenenaustausch ist in etwa fünf Sprachen erschienen.
Für deinen Recherche-Alltag habe ich ein verschlagwortetes Archiv aller Beiträge zusammengestellt und eine Linkliste mit noch mehr Tools. Wenn dir der Online-Recherche Newsletter bei deiner Arbeit hilft, kannst du ihn jetzt hier auf Steady unterstützen. 💛
Danke fürs Lesen und viel Erfolg bei der Recherche!