ORN #37 An nicht-öffentliche Dokumente rankommen
... und eine smarte Recherche mit Daten von Doctolib.
In dieser Ausgabe geht es um ein mächtiges Werkzeug: Informationsfreiheitsgesetze, kurz IFG. Sie machen ungeahnte Recherchen möglich und bringen unter Verschluss gehaltene Dokumente ans Tageslicht. Dabei helfen auch internationale Websites. Im Werkstatt-Interview berichtet Haluka Maier-Borst von seiner Daten-Recherche über die frustrierende Wartezeit auf Praxistermine. Willkommen zu Ausgabe #37.
FragDenStaat: Informationsfreiheit in Deutschland
🔑 Wofür braucht man das? Möchte eine staatliche Pressestelle keine Auskunft geben, dann kann man sie dazu zwingen – und zwar mit dem Recht auf Informationsfreiheit. Demnach müssen Behörden angefragte Dokumente offenlegen, nur in Ausnahmefällen können sie das legitim verweigern. Das Portal FragDenStaat ist die ideale Anlaufstelle, um von diesem Recht Gebrauch zu machen. Für die Recherche besonders nützlich ist die Suchfunktion: Das Archiv aus erfolgreichen und gescheiterten Anfragen ist nicht nur ein Schatz aus Wissen, sondern auch Inspiration für neue Recherchen.
⚙️ Wie funktioniert das? Informationsfreiheit verpflichtet Staaten zur Transparenz. Entsprechende Gesetze gibt es auf Bundesebene sowie in allen deutschen Bundesländern außer Bayern und Niedersachen (Übersicht). IFG-Anfragen können alle Bürger*innen stellen, auch ohne FragDenStaat. Das Portal macht es aber kinderleicht, Anfragen zu formulieren und mit der Öffentlichkeit zu teilen – und es liefert Tipps, wenn Behörden mauern.
📌 Was muss man beachten? Eine IFG-Anfrage löst bei einer Behörde wohl kaum Begeisterung aus. Fadenscheinige Absagen gibt es immer wieder. Aber sie lassen sich anfechten, notfalls vor Gericht. Ein Monat Antwortfrist ist üblich, je nach Umfang der Anfrage können außerdem Gebühren anfallen.
AskTheEU: Der EU auf die Finger schauen
🔑 Wofür braucht man das? Nicht nur deutsche Behörden müssen auf Anfrage Dokumente herausrücken, sondern auch EU-Behörden. Und genau dort werden viele Gesetze verhandelt, die mit etwas Verzögerung Menschen in Deutschland betreffen. Ähnlich wie FragDenStaat auf Deutschland-Ebene ist AskTheEU auf EU-Ebene die ideale Anlaufstelle für IFG-Anfragen.
⚙️ Wie funktioniert das? Hinter AskTheEU steckt die in Madrid ansässige Menschenrechtsorganisation Access Info Europe. Mit dem Portal lassen sich mit wenigen Klicks vergangene IFG-Anfagen per Archiv durchsuchen und neue versenden. Dazu berechtigt sind alle Bürgerinnen und Bürger der EU, und zwar in den 24 offiziellen Sprachen der EU.
📌 Was muss man beachten? Auch auf EU-Ebene gilt: IFG-Anfragen können eine Übung in Hartnäckigkeit sein. Offenbar lohnt es sich für manche Behörden zu mauern, bis die Gegenseite frustriert aufgibt. Wenn EU-Behörden nicht reagieren, lässt sich Widerspruch einlegen, bis hin zur Eskalation beim Europäischen Ombudsmann. AskThEU gibt hierzu Hilfestellung.
Freedom of Information: Weltweit Dokumente befreien
🔑 Wofür braucht man das? Weltweit haben Staaten Gesetze zur Informationsfreiheit (kurz: FOI, freedom of informatoin), von denen auch Journalist*innen in Deutschland profitieren können. Möchten etwa deutsche Behörden keine Dokumente zu laufenden EU-Verhandlungen herausrücken, dann tun das vielleicht die Behörden anderer Staaten, die mit am Tisch sitzen. Zum Beispiel gelten Behörden in Schweden und Dänemark bei IFG-Anfragen als eher kooperativ.
⚙️ Wie funktioniert das? Die Hemmschwelle kann hoch sein, erstmals in einem anderen Land eine IFG-Anfrage zu stellen. Mit Tutorials und übersichtlichen Online-Portalen versuchen Transparenz-Organisationen, den Einstieg so einfach wie möglich zu machen. Zum Beispiel gibt es für mehr als 20 Staaten IFG-Portale auf Basis der quelloffenen Software Alaveteli. Eine Linksammlung mit noch mehr Anlaufstellen bietet das "Global Investigative Journalism Network".
📌 Was muss man beachten? Mit ein paar Tricks lässt sich der Erfolg von IFG-Anfragen erhöhen. Eine Übersicht hat etwa die NGO Privacy International zusammengestellt. Besonders interessant finde ich den Ratschlag, sich direkt bei einer Behörde zu erkundigen, wie sich eine IFG-Anfrage eingrenzen lässt, damit sie auch zügig bearbeitet wird.
Interview: Doctolib als Quelle für Recherchen
76 Tage müssen Menschen in Berlin üblicherweise auf einen Termin bei der Hautärztin warten. Privatversicherte warten dagegen im Mittel 22 Tage. Das zeigt eine Recherche des rbb (Radio Berlin Brandenburg), für die der fest-freie Datenjournalist Haluka Maier-Borst nichts weiter brauchte als seinen Browser – und das Terminvergabe-Portal Doctolib.
ORN: Haluka, deine Recherche betrifft mich persönlich: Ich bin Kassenpatient in Berlin. Wie schlecht bin ich dran?
Haluka Maier-Borst: Du wartest deutlich länger auf einen Praxistermin als Privatversicherte. Zu dem Thema gibt es zwar bereits Erhebungen, aber wir konnten das Ausmaß des Problems jetzt mithilfe von Doctolib am Beispiel von Berlin aufzeigen. Ein bisschen geschockt hat mich das schon. Je nach Fachgebiet musst du als Kassenpatient bis zu acht Wochen länger auf deinen Termin warten. Dabei ist eine solche Ungleichbehandlung gesetzlich nicht erlaubt.
ORN: Wie hast du das herausgefunden?
Haluka: Ich habe eine Stichprobe gemacht und an einem Tag die verfügbaren Termine für vier Fachgebiete untersucht. Dafür habe ich ein Programm geschrieben, das die Daten automatisch erfasst, ein sogenannter Scraper. Dieses Programm nutzt dabei einen Werkzeugkasten namens Puppeteer. Das Coole an Puppeteer ist, dass es sich für dynamische Seiten eignet. Das heißt, das Programm kann somit auch klicken und scrollen, damit die Seite neue Inhalte lädt. Das braucht es nämlich bei Doctolib. Außerdem hat Puppeteer eine grafische Oberfläche, das heißt, du kannst dir anschauen, was das Programm macht. Wenn alles passt, schaltest du auf "headless", dann arbeitet das Werkzeug ohne grafische Oberfläche und ist viel schneller.
ORN: Wie schwer ist es, Puppeteer zu bedienen?
Haluka: Du musst schon etwas Programmieren können. Das Mühsahmste bei Scrapern ist herauszufinden, welche Zeilen Code du brauchst, damit dein Scraper zum Beispiel diese eine Tabelle erfasst, die du haben willst. Für Puppeteer gibt es inzwischen eine Funktion, die dir dabei hilft, und zwar einen Record-Button. Du führst dann selbst mit der Maus vor, was das Werkzeug später automatisch tun soll. Das habe ich teilweise genutzt.
Es kann frustrierend sein, wenn du siehst: Die erhobenen Daten passen leider nicht zur Geschichte
ORN: Warum ist deine Stichprobe nicht größer?
Haluka: Für den rbb kamen Berlin und Brandenburg in Frage. Außerhalb von Berlin gab es aber nicht genügend Termine auf Doctolib, um statistisch belastbare Aussagen zu treffen. Damit hätte ich mich nicht wohl gefühlt. Deshalb haben wir die Recherche allein auf Berlin ausgerichtet. Die Fachrichtungen Dermatologie, Gynäkologie, Orthopädie und Neurologie haben wir als Beispiele gewählt. Ich habe ein paar Testläufe gemacht, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Dabei kam ich zu dem Schluss, dass ein einzelner Tag für eine Stichprobe ausreicht, mit der ich gut leben kann.
ORN: Wie lange hat die Recherche gedauert?
Haluka: Der Aufwand waren etwa zwei Tage. Mit mehr Stichproben hätte es länger gedauert. Das ist der Unterschied zwischen Datenjournalismus und Forschung. Für ein wissenschaftliches Paper hätte ich wohl über mehrere Monate hinweg an mehreren alternierenden Tagen in der Woche Daten erhoben. In diesem Fall haben wir die Daten für einen Nachrichtenbeitrag über eine betroffene Person gebraucht, und wir kannten mindestens zwei andere Studien mit demselben Tenor.
ORN: Was kam zuerst, die Geschichte der betroffenen Person oder die Daten?
Haluka: Die Geschichte kam zuerst, und die Redaktion hatte mich gefragt, ob ich dazu auch Daten erheben kann. In dieser Reihenfolge mache ich das eher ungern, denn es kann frustrierend sein, wenn du siehst: Die erhobenen Daten passen leider nicht zur Geschichte. Hier haben sie gepasst und ich wusste auch, dass die Redaktion fein damit ist, zu sagen: So sieht es bei unserem Einzelfall aus, und etwas anders – aber dennoch ähnlich – in unserem Datensatz.
ORN: Die typische Wartezeit auf einen Praxistermin hast du nicht als Durchschnitt berechnet, sondern als Median. Warum?
Haluka: Der Median ist statistisch stabiler. Er sagt: Die Hälfte der Menschen wartet länger auf einen Termin, die andere Hälfte weniger lange. Wenn wir stattdessen den Durchschnitt berechnen, können Ausreißer das Bild verzerren. Also zum Beispiel zwei Praxen, in denen besonders ungleich behandelt wird.
ORN: Eine Entscheidung bei der Erhebung hat mich irritiert. Warum hast du freie Termine in der laufenden Woche nicht einbezogen?
Haluka: Dafür gab es einen inhaltlichen und einen technischen Grund. Es könnte sein, dass Praxen kurzfristig einen Termin für Privatversicherte doch auch für gesetzlich Versicherte anbieten, bevor er gar nicht vergeben wird. Das würde die Untersuchung verzerren. Außerdem stellt Doctolib Termine für die laufende Woche anders dar. Das hätte das Scraping schwieriger gemacht. Also haben wir diese Einschränkung in Kauf genommen und in einer Fußnote offengelegt.
ORN: Bei der Terminsuche auf Doctolib ist mir schon aufgefallen, dass der erste Eindruck täuschen kann. Du klickst einen angeblich freien Termin für gesetzlich Versicherte an, aber dahinter steckt leider keine Sprechstunde. Stattdessen sind das weniger hilfreiche Gratis-Termine wie etwa eine kostenlose Botox-Beratung. Hast du das berücksichtigt?
Haluka: Nein. Bei Erhebungen gibt es oft Sonderfälle, die man nicht einbeziehen kann. Was ich bei einer Erhebung ausschließen will, ist, dass wir ein Problem als zu groß darstellen. Ich kann besser damit leben, wenn ich sage: Das hier habe ich mit gewissen Einschränkungen herausgefunden, und potenziell könnte das Problem größer sein.
ORN: Doctolib als Quelle für Recherchen: Ist da noch mehr zu holen?
Haluka: Bestimmt! Wir haben unsere Erhebung nur auf Berlin begrenzt. Man könnte auf ähnliche Weise auch andere Websites untersuchen, die Termine anbieten. Oder Website mit Preisangaben, um zu sehen, wie sich Preise in der Inflation entwickeln.
Für deinen Recherche-Alltag habe ich ein verschlagwortetes Archiv aller Beiträge zusammengestellt und eine Linkliste mit noch mehr Tools. Wenn dir der Online-Recherche Newsletter bei deiner Arbeit hilft, kannst du ihn jetzt hier auf Steady unterstützen. 💛
Danke fürs Lesen und viel Erfolg bei der Recherche!