Auf Mastodon erlebt man mich oft als scharfen Kritiker des KI-Hypes. Drei Werkzeuge, die mit dem Begriff KI vermarktet werden, finde ich aber bemerkenswert. Sie transkribieren Interviews, finden Querverbindungen, erzeugen Bilder und liefern wertvolle Quellen. Im Werkstatt-Interview berichtet Journalistin Eva Wolfangel von ihrer Recherche mit der berüchtigten NoFlyList der USA. Willkommen zu Ausgabe #39.
Perplexity AI: Besser als ChatGPT
🔑 Wofür braucht man das? Perplexity AI ist eine mächtige Ergänzung zum Googeln, wenn man sich in ein neues Thema einarbeiten möchte. Der Chatbot verweist in seinen Antworten vor allem auf Links zu Fachartikeln. So lassen sich schnell hilfreiche Quellen erschließen. Zum Beispiel habe ich auf Deutsch gefragt: "Was sagt die Forschung über Politisierung auf TikTok?" Als Antwort gab es neben Beiträgen von SPIEGEL und Deutschlandfunk auch eine Masterarbeit und ein wissenschaftliches Paper. Der Chatbot hat die Quellen außerdem in knappen Sätzen auf Englisch zusammengefasst.
⚙️ Wie funktioniert das? Perplexity AI nutzt dieselbe, technische Grundlage wie der viel gehypte Chatbot ChatGPT. Beide Dienste reihen Worte aneinander, die gut zusammenpassen, und generieren dadurch überzeugend klingende Texte. Der Unterschied ist die Zielsetzung: ChatGPT möchte Nutzer*innen nicht auf andere Websites schicken, sondern gibt ihnen scheinbar abschließende Antworten. Perplexity AI dagegen fasst sich kurz und hilft beim Erschließen neuer Quellen. Jüngst hat das Start-up hinter dem Chatbot laut eigener Website mehr als 25 Millionen US-Dollar Risiko-Kapital gesammelt.
📌 Was muss man beachten? Chatbots wie ChatGPT und Perplexity AI sind nicht intelligent und haben keinen Sinn für Fakten. Sie erzeugen Antworten auf Basis von Trainingsdaten und Textbefehlen. Das heißt, was sie ausspucken sind reine Automplete-Erzeugnisse. Entsprechend kann jede Behauptung falsch sein und muss händisch überprüft werden. Da ChatGPT keine Quellen nennt, kann ich es für journalistische Recherchen nicht empfehlen. Bei Perplexity AI dagegen lassen sich die grundsätzlich fragwürdigen Chatbot-Antworten überfliegen, um sich rasch den Primärquellen zu widmen.
Google Pinpoint: Magnet für die Nadel im Heuhaufen
🔑 Wofür braucht man das? Kommen bei einer Recherche haufenweise Dokumente zusammen, lässt sich mit Pinpoint ein Überblick gewinnen. Das Werkzeug aus dem Hause Google wurde gezielt für Journalismus und Forschung entwickelt. Zuerst lädt man alle Dokumente der Recherche hoch, etwa PDFs und E-Mails, aber auch Audio-Dateien und handschriftliche Notizen. Darin sucht Pinpoint dann Orte und Namen von Menschen und Organisationen. Im besten Fall werden so wichtige Querverbindungen sichtbar, die man sonst hätte suchen müssen wie die Nadel im Heuhaufen. Zusätzlich lassen sich alle Dokumente per Volltextsuche durchforsten.
⚙️ Wie funktioniert das? Pinpoint nutzt mehrere Technologien, um die Inhalte der hochgeladenen Dokumente zu erfassen. Für Texte in PDFs, Bildern und handschriftlichen Notizen kommt optische Zeichenerkennung (OCR) zum Einsatz; für Texte in Audio-Dateien ist es Sprache-zu-Text-Erkennung. Um Pinpoint nutzen zu können, musste ich mich zuerst als Journalist registrieren. Google fragte dafür nach meinem Arbeitgeber und meiner beruflichen E-Mail-Adresse.
📌 Was muss man beachten? Allein die kostenlose Sprache-zu-Text-Erkennung von Pinpoint ist ein Geheimtipp – damit lassen sich auch Interviews transkribieren. Aber Google ist auch ein Datensammler. Der Konzern gibt auf Anfrage Daten an Ermittlungsbehörden weiter. Ich rate davon ab, bei Pinpoint sensible und vertrauliche Inhalte hochzuladen. Man sollte auch nicht vergessen, dass automatische Texterkennung Fehler macht. Es kann also sein, dass Pinpoint nicht alle Namen und Adressen richtig erkennt, und eine händische Suche noch mehr zutage fördert.
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Bing Create: Komfortabler und kostenloser Bild-Generator
🔑 Wofür braucht man das? Mit neuartigen Bildgeneratoren lassen sich Illustrationen für die redaktionelle Arbeit erzeugen. Es genügt ein Textbefehl, der das gewünschte Motiv beschreibt. Im Netz wimmelt es vor teils kostenpflichtigen Angeboten, ständig kommen neue hinzu. Viele stammen von Start-ups, die noch an ihrer Website schrauben oder nach kurzer Zeit eine Paywall hochziehen. Das aktuell komfortabelste Gratis-Angebot ist Bing Create. Dafür braucht es einen Microsoft-Account. Das Werkzeug nutzt den Bildgenerator DALL-E-2 der Firma OpenAI.
⚙️ Wie funktioniert das? Bildgeneratoren wie DALL-E-2 berechnen neue Bilder auf Grundlage von gelernten Variablen. Diese Variablen beziehen sich auf Merkmale von Motiven, zum Beispiel: Orangen sind rund. Diese Merkmale wiederum stammen aus dem Trainingsmaterial, also Abermillionen Bilder und Bildbeschreibungen. Gibt man der Software etwa den Befehl, eine Orange zu generieren, dann wendet sie die gelernten Variablen an. Gerade liefern sich Tech-Konzerne einen Wettkampf um die Vormacht auf dem KI-Markt. Da Microsoft den Dienst kostenlos anbietet, wird wohl auch Google nicht lange auf sich warten lassen.
📌 Was muss man beachten? Mit geschickten Textbefehlen ("prompts") lassen sich die Erzeugnisse von Bildgeneratoren verbessern. Einen Haufen Tipps gibt es zum Beispiel im DALL-E-2 Prompt Book. Der einzige Nachteil von Bing Create: Die Erzeugnisse sind aktuell nur quadratisch. Doch auch das lässt sich per Bildgenerator lösen. Hierfür wechsele ich gerne zu einem anderen Dienst, der mein Motiv auf Wunsch einfach weitermalen kann.
Klickweg: bei openai.com einloggen > DALL-E auswählen > upload an image > edit image > add generation frame. Die Anzahl kostenloser Anfragen ist bei openai.com allerdings gedeckelt auf 15 pro Monat. Deshalb nutze ich das nur, wenn ich mein Wunschmotiv bereits gefunden habe. Wer eine leistungsstarke Grafikkarte hat, kann auf solche kommerziellen Anbieter verzichten: Der quelloffene Bildgenerator StableDiffusion läuft mit Diffusion Bee auch auf dem eigenen Rechner.
Interview: Enthüllungen mit DDoSecrets
Bei DDoSecrets können Journalist*innen exklusiv Zugang zu brisanten Leaks erhalten. Die freie Journalistin Eva Wolfangel hat Material der NGO für eine ZEIT-Recherche zur NoFlyList der USA genutzt. Im Interview erklärt sie, wie man ein solches Riesen-Leak bewältigt – und wie sich bei DDoSecrets weitere Schätze heben lassen.
ORN: Eva, was bedeutet es, auf der amtlichen "No Fly List" der USA zu stehen?
Eva Wolfangel: Diese Leute dürfen nicht in die USA reisen und auch nicht den Luftraum der USA durchqueren. Fluggesellschaften müssen sie abweisen. Ich war überrascht, wie unheimlich umfangreich diese Liste ist, und mit welcher Willkür offenbar Namen darauf landen. Selbst unbescholtene Menschen haben kaum eine Chance, von der Liste wieder herunterzukommen.
ORN: Ihr habt die "No Fly List" von einer Organisation namens DDoSecrets erhalten. Die Abkürzung steht für "Distributed Denial of Secrets". Das ist ein Wortspiel mit dem IT-Begriff Distributed Denial of Service. Wer steckt dahinter?
Eva Wolfangel: Das ist eine Non-profit-Organisation, die Leaks von öffentlichem Interesse sammelt und Journalist:innen zur Verfügung stellt. Bei der Zusammenarbeit ist mir aufgefallen: DDos-Secrets achtet sehr darauf, verantwortungsvoll mit den Leaks umzugehen. Ich musste zuerst belegen, dass ich Journalistin bin. Ich schätze, dafür haben sie meine E-Mail-Adresse überprüft, meine Website, Social-Media-Accounts und veröffentlichten Artikel. Die Kommunikation war auf Englisch. Die Organisation warnt dich auch, wenn sie die Herkunft und Richtigkeit eines Leaks nicht sicher belegen kann. Sie schicken einen großen Disclaimer, wenn sie nicht wissen, wer diese Dokumente mit welchem Interesse verbreitet haben könnte. Das habe ich zum Beispiel erlebt, als ich mit einem Leak zu Russland und der Ukraine gearbeitet habe.
ORN: Wie ist die "No Fly List" bei DDos-Secrets gelandet?
Eva Wolfangel: Eine ethische Hackerin aus der Schweiz hat das Dokument auf dem schlecht gesicherten Server einer Fluggesellschaft gefunden. Sie hat das Dokument an DDos-Secrets übergeben, damit es die Organisation an vertrauenswürdige Stellen verteilt.
"Zu zweit lassen sich Recherchen viel besser bewältigen"
ORN: Die "No Fly List" hat 1,5 Millionen Einträge. Wo fängt man da an?
Eva Wolfangel: Ich habe auch zuerst gezögert. Allein wäre die Recherche mühsam und frustrierend gewesen. Also habe ich mich mit ZEIT-Redakteur Kai Biermann zusammengetan. Zu zweit lassen sich solche Recherchen gleich viel besser bewältigen. Man braucht jemanden zum Diskutieren. Die "No Fly List" ist eine Datei im csv-Format, eine endlos lange Liste mit Namen und Geburtsdaten. Ich habe sie nur im Editor geöffnet, weil ein Tabellen-Programm nicht alle Zeilen darstellen konnte. Wir haben einige Methoden ausprobiert, um in der Liste gezielt deutsch klingende Namen zu finden. Zum Beispiel haben wir die Liste mit Namen von bekannten Persönlichkeiten aus der deutschen Wikipedia abgeglichen. Dabei hat uns ein Kollege geholfen, der sich mit Programmieren auskennt.
ORN: Das klingt smart!
Eva Wolfangel: Joa, leider hat es nicht so gut funktioniert. Wir haben damit nur ein paar wenige nützliche Namen gefunden. Am meisten gebracht hat es, händisch nach deutsch klingenden Vornamen zu suchen, zum Beispiel "Dieter" oder "Peter". Du musst dir das so vorstellen, die Liste ist nicht alphabetisch sortiert. Ich glaube, sie hat gar keine besondere Sortierung, sondern wurde einfach Stück für Stück erweitert. Dafür spricht unsere Beobachtung, dass häufig Namen direkt hintereinander stehen, wenn sie etwas miteinander zu tun haben. Zum Beispiel, wenn eine Person mehrere Decknamen hat oder mehrere Personen zur selben Gruppe gehören. Es war immer spannend, wenn wir in dem riesigen Dokument ein solches Cluster mit deutsch klingenden Namen entdeckt haben.
ORN: Was habt ihr mit den entdeckten Namen gemacht?
Eva Wolfangel: Wir wollten herausfinden, wer die Menschen sind, und haben die Namen unter anderem per Suchmaschine recherchiert. In manchen Fällen war auch LinkedIn sehr hilfreich. Zu einigen Namen gab es im Netz gar keine Spuren. Ich vermute, das waren Tarnidentitäten.
ORN: Wer sind die Deutschen auf der "No Fly List"?
Eva Wolfangel: Da waren zum Beispiel die Namen ehemaliger RAF-Terrorist:innen. Einer von ihnen ist Karl-Heinz Dellwo; er hat seine Strafe längst verbüßt und gilt nach deutschem Recht als rehabilitiert. Trotzdem ist er immer noch auf der "No Fly List", allein das ist ein Skandal. In dem Dokument fanden wir auch Tarnnamen von Doris Glück. Sie hatte vor Gericht gegen islamistische Terroristen ausgesagt und ist seitdem im Zeugenschutzprogramm. Ich sehe keinen Grund, warum sie für die USA verdächtig sein sollte, im Gegenteil.
Für sie und andere Menschen in Zeugenschutzprogrammen ist es sehr gefährlich, wenn Tarnnamen auf einer Liste für Fluggesellschaften landen. Das hat mich schockiert. Wir hatten auf der Liste auch ein unbescholtenes Paar aus Stuttgart gefunden, das vermutlich nur zufällig den Namen mit einer wohl verdächtigen Person teilt. Das Paar kann jetzt einfach nicht mehr in die USA einreisen. Offensichtlich beschränken US-Behörden lieber die Reisefreiheit von zahlreichen unbeteiligten Menschen, als dass ihnen jemand durch die Lappen geht.
ORN: Wie lange habt ihr euch in der Liste vertieft?
Eva Wolfangel: Wir konnten einige Zeit nicht aufhören zu suchen. Da sind einige Tage und vor allem Nächte reingeflossen. Wir haben immer wieder neue Cluster mit deutsch klingenden Namen gefunden und in endlos lange Dokumente kopiert. Dabei gab es Hochs und Tiefs. Das ist eine Arbeit, die sich lange nicht produktiv anfühlt. Du machst viel Zeug, bei dem nichts herauskommt. Aber Kai und ich waren uns sicher: Da steckt etwas drin. Und dann haben wir wirklich Menschen erreicht, die wir auf der Liste entdeckt haben, und von ihren Schwierigkeiten erzählt. Nach zwei, drei Wochen hatten wir genug anschauliche Beisiele, um über die Gefahren der "No Fly List" zu berichten.
ORN: Schlummern bei DDSos-Secrets viele weitere Recherchen?
Eva Wolfangel: Bestimmt, die Organisation hat immer wieder interessante Leaks, gerade zum Thema Russland und Ukraine. Es lohnt sich, regelmäßig dort nachzuschauen. Ich habe aber noch nicht viel damit gearbeitet, weil es auch ein sehr großer Aufwand ist, gerade als freie Journalistin.
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Danke fürs Lesen und viel Erfolg bei der Recherche!