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Zu Gast im Interview ist diesen Monat die Datenjournalistin Marie Bröckling. Sie berichtet von einer besonderen Art der Desinformation, die mir zuvor komplett fremd war.
Die Werkzeug-Tipps dieser Ausgabe drehen sich um TikTok, einem der wichtigsten Schauplätze der digitalen Öffentlichkeit. Mit einfachen Tricks könnt ihr die Plattform gezielt nach brisanten Inhalten durchsuchen und verloren geglaubte Uploads wieder ans Tageslicht holen.
Dorks: TikTok mit Google durchkämmen
🔑 Wofür braucht man das? Auf TikTok gibt es nicht nur Promis und Popkultur, sondern auch Politik und Propaganda – eine ergiebige Quelle für Recherchen. TikTok wurde aber nicht gebaut, um systematisch durchforstet zu werden, die interne Suchfunktion ist begrenzt. Mithilfe spezieller Google-Suchbefehle, sogenannter Dorks, lassen sich aus TikTok dennoch gezielte Informationen hervorkitzeln.
⚙️ Wie funktioniert das? Google indexiert auch viele Inhalte von TikTok, das heißt: Sie landen im Verzeichnis der Suchmaschine. Viele TikTok-Inhalte verbreiten sich etwa, indem Nutzer*innen Videos zu ein- und demselben Sound hochladen. Gezielt googeln lassen sich diese Sounds mit dem Befehl [site:tiktok.com/music inurl:biden] – dieses Beispiel fördert etwa Sounds und damit verknüpfte Uploads über US-Präsident Joe Biden zutage. Der Suchbefehl [site:tiktok.com/tag biden] liefert eine Reihe von TikTok-Hashtags rund um das Wort "biden". Auch solche Hashtags können ein Schlüssel sein, um neue Inhalte für die Recherche zu erschließen.
📌 Was muss man beachten? Recherchen auf TikTok sind flüchtig und selten vollständig. Zum Beispiel indexiert Google nicht jeden Upload bei TikTok – und manchmal führen die Google-Ergebnisse ins Leere, offenbar weil manche Uploads schon wieder offline sind.
Wayback Machine: TikTok per Archiv festnageln
🔑 Wofür braucht man das? Die Wayback Machine setzt der Flüchtigkeit von Social Media die Beständigkeit eines Archivs entgegen. Das Projekt archiviert nicht nur Websites, sondern auch TikTok-Accounts. Wenn Zielpersonen einer Recherche auf TikTok Namen, Fotos und Kurzbios ändern, dann lässt sich das möglicherweise im Archiv nachvollziehen. Wer während der Recherche bestimmte Uploads dokumentieren will, kann sie dem Archiv auch gezielt hinzufügen.
⚙️ Wie funktioniert das? Hinter der Wayback Machine steht die gemeinnützige Organisation Internet Archive. Damit das Archiv wächst, untersuchen Programme, sogenannte Webcrawler, automatisch das Netz und speichern Momentaufnahmen. Mit der Funktion "Save Page Now" können Nutzer*innen das Archiv auch händisch erweitern. Das eignet sich besonders, wenn man Social-Media-Inhalte – zum Beispiel von TikTok – auf Dauer öffentlich verlinkbar machen möchte.
📌 Was muss man beachten? Die Wayback Machine ist nicht vollständig, und manchmal funktioniert die öffentliche Dokumentation eines Inhalts nicht. Zusätzlich sollte man brisante Inhalte immer auch lokal speichern. Aktuell lassen sich TikTok-Videos einfach im Browser herunterladen mit Rechtsklick > Video herunterladen.
An dieser Stelle ein passender Lesetipp: Warum die US-amerikanische Investigativ-Journalistin Emily Baker-White auf ihrem Diensthandy kein TikTok nutzt.
For You: TikTok per Algorithmus erkunden
🔑 Wofür braucht man das? TikTok wurde vor allem gebaut, um sich passiv berieseln zu lassen. Genau das kann man sich zunutze machen. Innerhalb weniger Minuten serviert uns TikTok mehr von dem, was uns anscheinend gefällt. Was liegt also näher, als die Algorithmen mit dem gewünschten Recherche-Thema anzufüttern? Wer zum Beispiel zu Anti-Biden-Propaganda auf TikTok recherchiert, muss bloß ein paar dieser Videos suchen und konsumieren. Und schon führen TikToks Algorithmen tiefer in den Kaninchenbau.
⚙️ Wie funktioniert das? TikTok erfasst genau, was Nutzer*innen in der App machen. Mit jedem der kurzen Videos liefern wir Eckdaten darüber, was uns mutmaßlich fesselt. Daraus erstellen die Algorithmen einen personalisierten Feed mit zunehmender Sogwirkung. So können virale Inhalte und einflussreiche Accounts schneller sichtbar werden als durch klassische Suchbefehle. Allerdings ist diese Methode eher experimentell; die Ergebnisse werden bei jedem Versuch anders sein.
📌 Was muss man beachten? Wer TikToks Algorithmen für die eigene Recherche nutzen möchte, profitiert von einer kürzlich eingeführten Funktion. In den Einstellungen lässt sich der eigene Empfehlungsalgorithmus zurücksetzen. Das heißt, alle bisher gelernten Vorlieben werden ignoriert, man fängt nochmal ganz von vorne an. So lassen sich die Algorithmen gezielt aufs eigene Recherche-Thema trainieren. Klickweg: Profil-Symbol unten antippen > Menü-Symbol oben antippen > Einstellungen und Datenschutz > Inhaltspräferenzen > Aktualisierte deinen Feed "Für dich".
Interview: Warum YouTuber*innen freiwillig China-Propaganda machen
Da läuft ein YouTuber durch die chinesische Provinz Xinjiang – dem Schauplatz beispielloser Menschenrechtsverletzungen – und behauptet: Alles sei OK. Ein Jahr lang hat die freie Datenjournalistin Marie Bröckling solche YouTuber*innen und ihr Publikum untersucht; die Ergebnisse sind auch im International Journal of Communication erschienen. Im Interview erzählt sie, wie sich mit öffentlichen YouTube-Daten die Reichweite von Propaganda beobachten lässt.
ORN: Marie, was sind Pro-China-YouTuber*innen?
Marie Bröckling: Das sind Menschen, die nicht aus China kommen, aber auf ihren Kanälen typische, pro-chinesische Erzählungen verbreiten, vor allem auf Englisch. Sie verpacken das in Videos über Lifestyle oder Essen und sie reden, wie coole YouTuber*innen eben reden. Damit erreichen sie ein Publikum, das sich vorher nicht mit diesen Themen beschäftigt hat. Besonders einprägsam fand ich ein Video, in dem ein YouTuber eine Straße in Kaschgar, Xinjiang entlangläuft und behauptet, die westlichen Journalisten hätten keine Ahnung, wenn sie von Menschenrechtsverletzungen sprechen.
ORN: Glauben die das wirklich?
Marie: Ich habe für die Recherche 16 Menschen interviewt, die solche Inhalte verbreiten, teilweise auf YouTube, teilweise für chinesische Staatsmedien. Einige haben mir offen gesagt: Ja, sie machen Propaganda – aber sie halten das für moralisch richtig. Denn westliche Medien würden auch Propaganda machen, und sie wollen ein Gegengewicht zur negativen Darstellung von China schaffen. Die Menschen haben mir immer wieder erzählt, dass sie persönlich von den Inhalten überzeugt sind und Geld nicht ihre Hauptmotivation ist. Einige haben zuerst aus eigenem Interesse pro-chinesische Inhalte veröffentlicht und wurde danach erst von chinesischen Staatsmedien kontaktiert, ob sie ihre Inhalte nicht auch für sie anbieten möchten. Einige sehen sich als Teil einer Community, in der sie sich ernst genommen fühlen.
ORN: Ist das eine neue Form staatlicher Propaganda?
Marie: Ja, ich schlage für dieses Phänomen den Begriff "state endorsers" vor. Damit meine ich Ausländer, die autoritäre Staaten öffentlich unterstützen. Einerseits sind sie keine staatlichen Akteure, andererseits werden sie zumindest teilweise staatlich bezahlt und bekommen in einem streng kontrollierten Medienumfeld besondere Freiheiten.
ORN: Gibt es das auch außerhalb von China, zum Beispiel in Russland?
Marie: Das fände ich interessant zu recherchieren! In unserem Paper haben wir den Begriff "state endorers" entwickelt, damit sich auf dieser Grundlage weiter arbeiten lässt.
“Schnittmenge zwischen Publikumsgruppen beobachten”
ORN: Wie bist du darauf aufmerksam geworden?
Marie: Ich bin 2020 nach Hongkong gezogen, dort hatte ich für zwei Jahre eine Forschungsstelle an der Journalismus-Fakultät der Universität. Ich wollte erforschen, wie sich China im Ausland darstellt. Dabei bin ich auf diese YouTube-Videos gestoßen. Mich hat total fasziniert, wie Ausländer in China Themen ansprechen, die dort eigentlich streng zensiert werden. Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang, die Unabhängigkeit von Taiwan. Das waren keine dubiosen Propaganda-Videos aus dem Hinterzimmer, sondern authentische Menschen, die ihr Gesicht vor der Kamera zeigen.
ORN: Wen erreichen diese YouTuber*innen?
Marie: Das haben wir mit datenjournalistischen Mitteln recherchiert. Wir wollten wissen, ob sie ein anderes Publikum erreichen als klassische chinesische Staatsmedien. YouTube zeigt zwar nicht an, wer ein Video geschaut hat – aber wer es kommentiert hat. Also haben wir gesammelt, welche Accounts unter den Videos von 25 Pro-China-YouTuber*innen kommentiert haben und welche Accounts unter den Videos von 19 chinesischen Staatsmedien.
ORN: Wie kann man das nachschauen?
Marie: YouTube bietet eine Programmierschnittstelle (API) an. Damit lassen sich alle Kommentare eines Videos herunterladen. Zu den Daten gehört auch, wer den Kommentar verfasst hat. Jeder Account auf YouTube hat eine einzigartige ID, also eine Kennziffer. So konnten wir die Schnittmenge zwischen den beiden Publikumsgruppen beobachten. Das Ergebnis: 48 Prozent der untersuchten Accounts haben nur bei den Pro-China-YouTuber*innen kommentiert, nicht bei den Staatsmedien.
ORN: Das heißt, diese YouTuber*innen erreichen eine Menge neue Leute, die Staatsmedien allein nicht erreicht hätten?
Marie: Genau. Das Ergebnis kann aber nur eine Annäherung sein, schon weil nur ein Bruchteil der Menschen auf YouTube überhaupt Videos kommentiert.
ORN: Wie anspruchsvoll war die Erhebung der Daten?
Marie: Wir haben den Code in den Programmiersprachen Python und R geschrieben. Der Datensatz war riesig, wir haben mehr als 5,4 Millionen YouTube-Kommentare erfasst. Die Anzahl der Anfragen an die YouTube-API ist zeitlich beschränkt, deshalb mussten wir immer wieder warten. Auch die Arbeit mit den Daten brauchte eine Menge Rechenzeit. Ich habe bei der Recherche gelernt, dass man seinen Code lieber fünf Mal auf Fehler überprüft, bevor man damit so viele Daten verarbeitet.
ORN: Welche Gefahr geht von den YouTuber*innen aus?
Marie: Ihre Videos können Menschen ansprechen und beeinflussen, die sich zunächst nicht besonders für China interessieren, aber ein generelles Misstrauen gegenüber traditionellen Nachrichtenmedien haben oder der sogenannten Überheblichkeit des Westens. Es ist auch relativ gut belegt, dass die chinesische Regierung gezielt Ausländer als Teil ihrer Außenkommunikation betrachtet, weil sie Inhalte für ein westliches Publikum eingängiger vermitteln können als zum Beispiel ein Korrespondent der China Daily. Wir haben gesehen, wie chinesische Diplomaten die Videos der YouTuber*innen teilen. Teilweise werden die Videos auch für Kommunikation im Inland verwendet, um zu zeigen: Seht her, Menschen im Ausland sagen, wir tun das Richtige.
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Danke fürs Lesen und viel Erfolg bei der Recherche!